12.06.2024 - Wiener Stadthalle
MORD IM ORIENTEXPRESS
Der Kult-Krimi von Agatha Christie- Live on Stage
Agatha Christies Klassiker MORD IM ORIENTEXPRESS tourt derzeit in einer aufwendig inszenierten Produktion durch den deutschsprachigen Raum und beweist, wie viel dramatisches Potenzial in einem scheinbar vertrauten Stoff steckt.
Mit großem Respekt vor der literarischen Vorlage und einem ausgeprägten Gespür für szenische Vielfalt verwandelt sich die Bühne in einen fahrenden Luxuszug und das Theater in den Schauplatz eines moralisch aufgeladenen Kriminalrätsels. Das Publikum darf sich auf einen spannungsreichen Abend voller feiner Ironie und erzählerischer Dichte freuen.
Die Bühnenfassung bleibt der Struktur des Romans treu, ohne in bloße Nacherzählung zu verfallen. Die Handlung: Ein Mord in einem eingeschneiten Zug, ein Ermittler mit messerscharfem Verstand und eine Gruppe undurchsichtiger Passagiere wird in einer straffen, klar konturierten Inszenierung neu belebt. Das Tempo ist hoch, jedoch nie überhastet. Es bleibt Raum für psychologische Zwischentöne, für innere Spannungen und für jene leisen Fragen nach Gerechtigkeit, die über das juristische hinausgeht.
Der legendäre Orientexpress wird nicht naturalistisch nachgebaut, sondern stilisiert in Szene gesetzt. Projektionen und eine präzise Lichtregie schaffen ein visuell eindrucksvolles Zugabteil, das zwischen Realität und Symbolkraft rangiert. Der Wechsel der Waggons, Schneefall und Schattenwürfe verleihen dem Stück eine filmische Qualität, die dem klassischen Krimiplot überraschend gutsteht. Der filmreife Soundtrack stammt von Marian Lux und unterstreicht die spannungsgeladene Atmosphäre.
Im Zentrum der Inszenierung steht Hercule Poirot, gespielt von Carsten Strauch mit kontrollierter Exzentrik und melancholischer Tiefe. Statt als Karikatur gezeichnet, erhält der belgische Meisterdetektiv hier Würde und Menschlichkeit.
Auch das übrige Ensemble vermag zu überzeugen. Figuren, wie der wichtigtuerische Oberst Arbuthnot (Sebastian Achilles, verkörpert auch den Kindsmörder Samuel Ratchett) oder die dramatisch angelegte Hellen Hubbard (Charlotte Heinke) sind prägnant gezeichnet und sorgfältig besetzt. In den weiteren tragenden Rollen sind Markus Schöttl (Monsieur Bouc), Johannes Huth (Schaffner Michel), Fabian Baecker (Hector MacQueen), Sylvia Moss (Prinzessin Dragomiroff), Pamina Lenn (Mary Debenham), Yasmina Hempel (Gräfin Elena Andrenyi) und Glenna Weber (Greta Ohlsson) zu erleben.
Statt einer Gruppe von zwölf Reisenden, die alle in Verbindung mit der ermordeten Daisy Armstrong stehen, sind es in dieser Inszenierung lediglich acht, die sich zusammengetan haben, um den Mörder des Kindes, den als Ratchett getarnten Cassetti, zu bestrafen.
Vor allem in den Befragungsszenen entfaltet das Stück seine Stärke. Pointierte Dialoge, spürbare Konflikte und dramaturgisch gekonnt gesetzte Spannungsbögen tragen den Abend.
Was diese Inszenierung über das Genre der Krimiunterhaltung hinaushebt, ist ihr feines Gespür für die moralische Dimension des Stoffes. Die Fragen nach Selbstjustiz, individueller Schuld und dem Scheitern institutioneller Gerechtigkeit werden nicht didaktisch, sondern atmosphärisch behandelt, eindringlich und doch subtil. Gerade im Finale gewinnt die Inszenierung an Tiefe und verlässt bewusst das Terrain reiner Unterhaltung.
Diese Tourneeproduktion von MORD IM ORIENTEXPRESS ist weit mehr als ein nostalgischer Ausflug in die Welt klassischer Detektivliteratur. Sie ist ein stilvoller, klug komponierter Theaterabend, der das Genre ernst nimmt, ohne sich ihm zu unterwerfen, spannend, unterhaltsam und mit einem leisen, andauernden Nachhall.
5 von 6 Sternen: ★★★★★
Kritik: Michaela Springer; Fotos: Nico Moser